Der Besuch von Merz markiert eine neue „Zeitenwende“ in den türkisch-deutschen Beziehungen. Angesichts globaler Machtverschiebungen Herausforderungen sucht Berlin nun die strategische Nähe zu Türkiye.
Die türkisch-deutschen Beziehungen erleben eine neue Zeitenwende. Geopolitische Umbrüche, der Ukraine-Krieg, der Einfluss der Trump-Ära auf Europas Sicherheitsdenken und erfolglose Rüstungsbeschränkungen haben Berlin zu einem strategischen Kurswechsel gegenüber Ankara veranlasst.
Bundeskanzler Friedrich Merz unternimmt heute einen äußerst wichtigen Besuch in Türkiye. Nur drei Tage vor Merz besuchte der britische Premierminister Keir Starmer Ankara, wo das seit Jahren auf der Tagesordnung stehende Eurofighter-Abkommen unterzeichnet wurde. Dass Deutschland seine Vorbehalte gegen den Verkauf dieser Kampfflugzeuge an Türkiye aufgegeben hat, zeigt sehr deutlich einen Bruch in Berlins Sichtweise auf die Türkiye und markiert eine neue Phase.
Im Hintergrund dieses Bruchs und dieser Neubewertung stehen selbstverständlich nicht die ideologische Welt von Merz oder die innenpolitischen Entwicklungen in Türkiye, die Deutschland sich seit Jahren erhofft und gewünscht hatte.
Im Kern dieser „Zeitenwende“ in den türkisch-deutschen Beziehungen und weiter gefasst in den Türkiye–EU-Beziehungen liegen vielmehr der große geopolitische Schock des Russland-Ukraine-Krieges und die harte Rhetorik sowie die außenpolitischen Schritte Europas nach der Machtübernahme Trumps in den USA.
Zeitenwende im globalen Machtgefüge
Wir erleben derzeit eine Phase, in der sich der Fluss der Geschichte beschleunigt. In der internationalen Politik gibt es Zeiten, in denen das geopolitische Gleichgewicht wie im Kalten Krieg über lange Zeit stabil bleibt oder wie nach dem Ende des Kalten Krieges in der unipolaren Weltordnung eine relativ stabile Phase herrscht. Doch selbst in solchen Perioden sammelt sich enorme Energie an, die sich durch Kriege oder große Zusammenbrüche entlädt. Dies kann man mit den Mechanismen vergleichen, die große Erdbeben auslösen – eine regelrechte „Zeitenwende“.
Große Kontinentalplatten reiben und pressen über viele Jahre, manchmal Jahrzehnte oder Jahrhunderte gegeneinander, und die sich ansammelnde Energie entlädt sich plötzlich in Form eines gewaltigen Erdbebens. In der Folge überprüfen Staaten ihre gesamte Bauordnung und treffen neue Vorsichtsmaßnahmen.
Ähnlich entlädt sich die sich über Jahre im internationalen System angesammelte Energie manchmal in Kriegen, manchmal – wie beim Zusammenbruch der Sowjetunion – in dramatischen Entwicklungen, oder sie äußert sich in radikalen außenpolitischen Entscheidungen wie jenen nach dem Amtsantritt von Trump.
Nach jedem großen Bruch positionieren sich alle Akteure des internationalen Systems neu und gestalten ihre Beziehungen, Sicherheitswahrnehmungen und Sicherheitsstrategien entsprechend.
Deutsche Außenpolitik im Zeichen der Zeitenwende
Nachdem der Russland-Ukraine-Krieg begonnen hatte, bezeichnete der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz das Jahr 2022 als eine „Zeitenwende“ und kündigte eine Rückkehr zum Realismus und die Priorisierung von Sicherheits- und Verteidigungspolitik an.
Natürlich waren es nicht nur Deutschland, sondern auch viele andere europäische Akteure, die begannen, ihre Außenpolitik diesem neuen Zeitalter anzupassen.
Daher können wir sagen, dass dieser große Wandel in der internationalen Ordnung die grundlegendste Ursache für den Politikwechsel Deutschlands gegenüber Türkiye darstellt.
Embargos wirkten nicht – Türkiye wird zum Rüstungsakteur
Ein weiterer Grund für diesen Politikwechsel liegt, wie bereits erwähnt, darin, dass die jahrelang verhängten offenen oder verdeckten Rüstungs- und Industrieembargos, der diplomatische Druck und die faktische Aussetzung des EU-Beitrittsprozesses keine Ergebnisse hervorgebracht haben. Im Gegenteil: Türkiye hat gerade in der Verteidigungsindustrie diese Hürden überwunden und eigene Systeme entwickelt und damit eine außen- und sicherheitspolitische strategische Autonomie aufgebaut.
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Türkiye kurz vor dem Besuch von Merz den modernen Altay-Kampfpanzer in Dienst gestellt hat.
Ursprünglich sollte dieser Panzer mit Motoren aus Deutschland produziert werden. Doch aufgrund der von Deutschland verhängten Verteidigungsbeschränkungen verzögerte sich die Produktion um fast ein Jahrzehnt. In dieser Zeit beschaffte Türkiye Motoren aus Südkorea und entwickelte parallel eigene motorische Systeme, um Exportabhängigkeiten zu vermeiden.
Das erste Produktionslos des Altay-Panzers wurde nun mit südkoreanischen Motoren gebaut; in zwei Jahren wird die Produktion mit türkischen Motoren erfolgen, sodass der Panzer zu einem ernsthaften Konkurrenten der deutschen Leopard-Panzer auf dem Weltmarkt werden dürfte.
Die Grenzen außenpolitischer Sanktionspolitik
In der Literatur wird intensiv darüber diskutiert, ob Embargos als außenpolitisches Instrument wirken. Während sie gegenüber feindlichen Staaten wie Russland gewisse Wirkung entfalten, sind sie in Fällen, in denen sie gegen Verbündete verhängt werden – sei es offen oder verdeckt – am wenigsten wirksam und können sogar gegenteilige Effekte erzeugen.
Türkiye, ein Land mit einer der stärksten Armeen der NATO und integraler Bestandteil des westlichen Bündnissystems, hat gezeigt, dass diese Embargos keine Ergebnisse hervorgebracht haben. Im Gegenteil: Sie haben den türkischen Willen in diesem Bereich gestärkt, die nationale Verteidigungsindustrie reifen lassen und den Anteil einheimischer Systeme erhöht. Dies hat die strategische Autonomie von Türkiye in der Außen- und Sicherheitspolitik erheblich gesteigert.
Folglich ist es nicht nur der Wandel des internationalen Systems, sondern auch die Tatsache, dass Türkiye in den letzten 15 Jahren durch große Fortschritte in der Verteidigungsindustrie ihre strategische Autonomie massiv gestärkt hat, der zu diesem politischen Kurswechsel Deutschlands und einer neuen Haltung der EU gegenüber Türkiye geführt hat.
Heute befinden wir uns in einer Phase, in der sich ein bedeutendes Chancenfenster in den Beziehungen zwischen Türkiye und der EU und ebenso zwischen Türkiye und Deutschland geöffnet hat.
Letzte Chance für eine echte Partnerschaft?
Wenn dieses Chancenfenster genutzt wird, könnte mit der Modernisierung der Zollunion, der Visaliberalisierung und der Teilnahme von Türkiye am SAFE-Programm der EU eine neue Ära beginnen, in der geopolitische Faktoren und Sicherheitsbedenken im Mittelpunkt stehen.
Sollten die Akteure innerhalb der EU und Deutschland die Zollunion und die Visaliberalisierung jedoch weiterhin als politisches Druckmittel gegenüber Türkiye einsetzen, werden sie dieses Chancenfenster wahrscheinlich verpassen und in zehn Jahren gezwungen sein, mit einem ganz anderen Türkiye zu verhandeln.
Aufgrund dieser Politik ist die EU in den letzten Jahren in Türkiye zunehmend irrelevant geworden. Wenn die EU wieder relevant werden will, muss sie ihre Politik ändern. Genau darin liegt der Kern der heutigen Entwicklungen.

